Zum Hauptinhalt springen

Der Mann, ohne den es die Weltmarke Sigg nicht gäbe


Die Sigg-Flasche hat Kultstatus. Doch die Geschichte des Firmengründers Ferdinand Sigg kennt niemand – bis auf seinen Grossneffen Jörg Sigg. Wenn er lebhaft von seinem Grossonkel erzählt, entsteht ein faszinierendes Bild des Gründers.

Sigg Abbildung 1
Jörg Sigg schreibt aktuell ein Buch über seinen Grossonkel und Gründer der Sigg AG, Ferdinand Sigg. Foto: Janine Hediger und Melanie Julia Schnider.

«Alte Fabriken haben einen ganz eigenen Duft. Sie riechen noch heute nach der Arbeit von damals», sagt Jörg Sigg. Der 77-jährige Thurgauer steht auf dem Areal der alten Sigg-Fabrik in Frauenfeld. Bis auf ihn ist das Gelände gänzlich ausgestorben. Die Fenster der Fabrik sind stockdunkel, Unkraut wuchert neben der Haupteingangstür. Trotz dieser tristen Wirkung des Geländes strahlt Jörg Sigg. Er ist ein Nachkomme von Ferdinand Sigg, der das Unternehmen 1908 gegründet hat.

Auf den Spuren des Grossvaters

«Die meisten kennen die glorreiche Geschichte der Sigg-Trinkflasche», meint er, während er durch das Areal führt. Das Design der Flasche wurde vielfach ausgezeichnet. Sie gilt als Kultprodukt und ist sogar im Museum of Modern Art in New York ausgestellt. «Doch niemand kennt die Geschichte von Ferdinand Sigg, meinem Grossonkel», sagt Jörg Sigg. Zu dieser recherchiert er seit seiner Pensionierung ausgiebig. So kennt er das gesamte Areal wie seine Westentasche, obwohl er selbst nie hier gearbeitet hat. Während er über den Kiesplatz geht, streckt er seinen Arm aus und deutet auf das Fenster über dem Haupteingang.

«Viele Schweizer blieben damals in Amerika, doch Ferdinand kam mit dem Ziel zurück, hier Unternehmer zu werden.»

«Das dort war Ferdinands Büro. Dort verbrachte er die meiste Zeit, denn die Fabrik war seine Herzensangelegenheit», erzählt Jörg Sigg. Sein Grossonkel habe zeitlebens an die Zukunft von Aluminium in der Industrie geglaubt. Das damals neue Material lernte er in seiner Lehre als Metalldrücker bei Märklin in Göppingen kennen, das Unternehmertum während einer Reise in Amerika. «Viele Schweizer blieben damals in Amerika, doch Ferdinand kam mit dem Ziel zurück, hier Unternehmer zu werden», berichtet Jörg Sigg.

Sigg Abbildung 2
Die Firma hatte schnell Erfolg: 1916 zogen Ferdinand Sigg und seine Mitarbeitenden von Biel in die grössere, auf dem Foto abgebildete Fabrik in Frauenfeld. Foto: Jörg Sigg.

1908 war es dann soweit: Ferdinand Sigg gründete in Biel zusammen mit einem Freund, Xavier Küng, eine eigene Firma. Das schnelle Wachstum führte bereits 1916 zum Umzug nach Frauenfeld. Den Erfolg mit Aluminium erklärt Jörg Sigg folgendermassen: «Es gab eine enorme Nachfrage nach diesen Produkten und man hat natürlich auch viel Reklame gemacht. Aluminium ist leicht, kann gut verarbeitet werden und ist, wenn man es poliert, hochglänzend.» So herrschte ein regelrechter Run auf Aluminiumprodukte wie Backgeschirr, Milchpfannen, Vorratsdosen, Bettflaschen oder Salatsiebe. Sogar die Kinder spielten mit Aluminiummünzen.

Sigg Abbildung 4
Das Siegel zierte bis 1936 zahlreiche Küchenutensilien wie diesen Spiritusbrenner. Heute produziert Sigg nur noch die weltbekannten Flaschen. Foto: Janine Hediger und Melanie Julia Schnider.

Ein Händchen für die richtigen Angestellten

Doch nicht nur die Nachfrage nach seinen Produkten war Ferdinand Sigg wichtig. Auch das Wohlbefinden der Mitarbeitenden lag ihm am Herzen. Er habe ein Händchen dafür gehabt, die richtigen Leute anzustellen, erzählt sein Nachkomme. Auch Migrantinnen und Migranten, dazumal hauptsächlich aus Italien, waren gesuchte und von Ferdinand Sigg geschätzte Arbeitskräfte. Sie wurden von den Abteilungsleitern eingearbeitet und waren nachher billigere Arbeiterinnen und Arbeiter. «Beschwert wegen des Lohns hat sich jedoch niemand. Ferdinand wurde von allen geschätzt», erzählt Sigg weiter. Die Faszination für seinen Grossonkel ist ihm förmlich anzumerken. Wie gut es den Gastarbeitenden der Sigg AG wirklich ging, lässt sich anhand historischer Quellen nicht eindeutig sagen. Damals hatten jedoch gemäss der «Südostschweiz» viele italienische Arbeiterinnen und Arbeiter oft mit massiven Vorurteilen und Benachteiligungen zu kämpfen.

Sigg Abbildung 5
Direkt oberhalb des Haupteingangs lag das Büro von Ferdinand Sigg. Perfekt, um immer einen Blick auf das Geschehen draussen zu haben. Foto: Janine Hediger und Melanie Julia Schnider.

Trotz Ferdinand Siggs Wohlwollen gegenüber den Mitarbeitenden und seinem grossen Unternehmergeist kannte ihn kaum jemand. «Er war nicht viel an Festen und deshalb in Frauenfeld kein bekanntes Gesicht. Ein geselliger Mensch war er trotzdem, vor allem in der Familie.» Dennoch blieb er lieber in seinem Büro und konzentrierte sich auf sein Lebensprojekt: die Fabrik. Auch die Tatsache, dass seine Villa auf dem Areal stand, lässt darauf schliessen, dass er für sein Unternehmen lebte. «Er war praktisch mit seiner Arbeit verheiratet», witzelt Jörg Sigg, als er vor der baufälligen Villa innehält, die heute unter Denkmalschutz steht.

Eine Weltmarke geht konkurs

1930 starb Ferdinand Sigg an einem Herzschlag in Nizza. «Nach seinem Tod ging es mit der Firma bergab», erzählt Jörg Sigg. Das Unternehmen litt, wie viele andere auch, unter der Weltwirtschaftskrise. «Niemand hat die Unternehmensführung übernommen und so herrschte oft Uneinigkeit in der Familie Sigg», berichtet der Nachkomme. So musste die Firma 1936 Konkurs anmelden. Die Sigg AG wurde von der Aluminiumfabrik Menziken übernommen, die zugleich Zulieferin und Konkurrentin war. Als Kind habe er in der Familie viele Diskussionen über diese Übernahme mitbekommen, erinnert sich Jörg Sigg. «Es war sehr belastend, wenn ich in der Schule immer wieder auf die berühmte Firma Sigg angesprochen wurde und stets antworten musste, das Unternehmen habe nichts mehr mit der Familie zu tun seit dem Konkurs und der Übernahme durch die Aluminiumfabrik Menziken.»

Sigg Abbildung 3

Noch immer ist die Wirkungsstätte von Ferdinand Sigg zu sehen, denn die Fabrik steht unter Denkmalschutz. Fotos: Janine Hediger, Melanie Julia Schnider / Jörg Sigg.

2016 wurde die Sigg AG an die chinesische Haers-Gruppe verkauft. Trotz dieser beiden Übernahmen hat Jörg Sigg sein Interesse an der Firma und der Marke nicht verloren und recherchiert intensiv. Aktuell arbeitet er an einem Buch zur Geschichte von Ferdinand Sigg und seinem Unternehmen. Denn es soll mehr übrigbleiben als das verlassene Sigg-Areal in Frauenfeld mit seinem typischen Duft in den Fabrikhallen. «Sigg war ein so bedeutendes Unternehmen, dass das Wissen über seine Geschichte und seinen Gründer erhalten bleiben soll», sagt Jörg Sigg.

Janine Hediger und Melanie Julia Schnider
Produktion im Rahmen eines Seminars am IAM Institut für Angewandte Medienwissenschaft der ZHAW. © IAM / Historisches Museum Thurgau, 2024