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Für die Buchbinderei um den Globus


Jakob Debrunner reiste 43 Jahre für die Firma Müller Martini um die Welt, während seine Frau Annalies sich zu Hause um den Haushalt und die Kinder kümmerte. Debrunners Leben war geprägt von Heimweh und Fernweh sowie einer engen Beziehung zu seiner Firma. 

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Jakob und Annalies Debrunner in ihrem Garten in Frauenfeld. Foto: Vanessa Bulliard.

Das thurgauische Mettendorf im Sommer 1965. Das jährliche Schützenfest findet statt. Jakob Debrunner, ein 20-jähriger Mechaniker, hat gerade die Rekrutenschule abgeschlossen. Im nächsten Jahr steht die Unteroffiziersschule an. Doch an diesem Sommertag erfüllt er seine Pflicht als Jungschützenleiter. Nach dem Schiessen fährt er mit seinem Freund in dessen VW-Käfer nach Eschikofen. Wie alle jungen Menschen aus der Region wollen sie in der örtlichen Festwirtschaft feiern. 

Als sie ankommen, sieht er sie – Annalies – die ihm immer um die Weihnachtszeit die Pakete in der Migros einpackt. Kurzerhand fragt er sie: «Willst du nachher mitfahren?» Nach der Feier steht Annalies mit Debrunner auf der Stossstange des VW-Käfers. «Ich weiss noch, ich bin sogar heruntergefallen», erinnert sich Annalies lachend.

Der Jungschütze und der Leutnant

Frauenfeld im Sommer 1860. Leutnant Friedrich von Martini kehrt enttäuscht von einem Infanterie-Regiment zurück, erzählt das Buch der Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik. Für Martini ist das Hinterladergewehr zu umständlich, vier Handgriffe sind für einen Schuss nötig. Der studierte Konstrukteur erfindet sein eigenes, für das ein Handgriff pro Schuss reicht. Die Erfindung erobert schnell den Waffenmarkt. Die britische Armee erklärt das Martini-Henry-Gewehr für 20 Jahre zur Ordonnanzwaffe. 

Nicht nur in der Waffentechnik glänzt Martini. 1897 bringt er die bekannteste Schweizer Automarke auf den Markt. Seine Martiniautos fahren später sogar Rennen in den Schweizer Bergen. Obwohl Martini 1897 stirbt, lebt seine Firma weiter und produziert unter seinem Namen Schrauben, Stickmaschinen, Schiffs- und Automobilmotoren sowie Buchbindereimaschinen. Die Firma lässt sich im thurgauischen Felben nieder, wo sie heute noch Buchbindereimaschinen herstellt. 

An jenem Schützenfest 1965, als Debrunner Annalies begegnet, schiesst er mit einem weiterentwickelten Hinterladergewehr. Er ahnt noch nicht, dass er bald für die von Martini gegründete Firma um die ganze Welt reisen wird.

Die Tore zur Welt öffnen sich

Frauenfeld im Frühling 2024. Debrunner sitzt an seinem Küchentisch und schaut auf die Fotografien, die er auf seinen Auslandsaufenthalten aufgenommen hat. Annalies stellt ihm ein Glas Wasser hin. Debrunner erzählt. 

Im Jahr 1968 heiraten er und Annalies. Zu diesem Zeitpunkt reist Debrunner bereits regelmässig für die Firma von Martini ins Ausland. Ein Jahr später übernimmt die Grapha AG aus Zofingen die Martini Buchbindereimaschinenfabrik AG. Unter dem neuen Namen Müller Martini AG wird nicht nur die Produktion ausgeweitet, sondern die Firma gründet auch Niederlassungen auf allen Kontinenten. Debrunner wird Versuchsmechaniker, in der Folge nehmen seine Auslandsaufenthalte zu.

«Mir ist bewusst, dass ich solch einen Beruf nicht mit jeder Frau hätte machen können.»

Während er für die Firma weltweit Prototypen installiert, kümmert sich Annalies um das Haus und später auch um die wachsende Familie mit den drei Töchtern. «Die Auslandsreisen gehörten zu Jakobs Beruf. Da unterstützte ich ihn selbstverständlich», sagt sie.

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Kundschaft aus der ganzen Welt besuchte regelmässig den Standort in Felben. Hier posiert Debrunner (links) mit einer Vertretung aus Thailand. Foto: Jakob Debrunner.

Seine Geschäftsreisen hinterlassen Spuren

Die längste Geschäftsreise von Debrunner dauert 15 Wochen und führt nach Chicago. «Während dieser Zeit habe ich nicht einmal nach Hause telefoniert, das war zu teuer. Ich habe Annalies jede Woche einen Brief geschrieben und sie hat mir wöchentlich eine Thurgauer Zeitung geschickt», sagt Debrunner. Doch der Aufenthalt geht nicht spurlos an der Familie vorbei. 

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Debrunner durchforstet alte Fotografien von seinen Auslandsreisen. Foto: Francisco Martinez Ruiz.

Während seiner Abwesenheit gebärt Annalies die zweite Tochter. Als Debrunner nach Hause kommt, ist das Mädchen drei Monate alt. Er will seine Tochter begrüssen, diese reagiert jedoch abweisend. «Das war für einen jungen Vater wie mich sehr hart. Ich sagte mir, dass ich nie wieder so lange fortgehe», sagt Debrunner. Unter den regelmässig reisenden Angestellten sei die Scheidungsrate hoch. Über die Hälfte der Ehen seien an der Arbeit zerbrochen, so Debrunner. «Mir ist bewusst, dass ich solch einen Beruf nicht mit jeder Frau hätte machen können.»

Aufstieg und Niedergang

Mit Annalies im Rücken dient Debrunner seinem Arbeitgeber in der Hochkonjunktur der 1980er-Jahre. In den USA boomen die Aufträge, über 40-mal fliegt Debrunner in die Staaten. Die «New York Times» gibt 1989 den bedeutendsten Auftrag in der Geschichte von Müller Martini: Für die Sonntagsausgabe bestellt sie ein Puffer- und Lagersystem. Auf über 1000 Rollen wird die vorgedruckte Ausgabe gelagert. Noch bis heute ist es das grösste Lagersystem weltweit. Dieser Auftrag läutet jedoch den Wendepunkt der grafischen Industrie ein. Das Internet ist auf dem Vormarsch und die gesamte Branche bewegt sich in Richtung Digitalisierung. Als Folge brechen Druckaufträge ein und mit ihnen nimmt der Umsatz von Müller Martini langsam ab. 

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Dieses Bild schoss Debrunner im Jahr 2008 bei der Arbeit in Japan. Foto: Jakob Debrunner.

Andenken

1994 fliegt Debrunner innerhalb von vier Wochen über Tokio, Taipei, Südkorea, Hongkong, San Francisco, Seattle, Minneapolis, Chicago und New York um die ganze Welt. «Aus jedem Land brachte er Silberlöffel mit. Ich wollte sie verkaufen, bringe es aber nicht übers Herz», erklärt Annalies schmunzelnd.

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Solche Silberlöffel brachte Debrunner von jeder seiner Geschäftsreise als Andenken für Annalies mit. Foto: Vanessa Bulliard.

Der digitale Wandel beschleunigt sich ab dem Jahr 2000 noch einmal. Debrunner reist immer noch, aber merklich weniger. Mittlerweile ist er Troubleshooter. «Das war das Beste. Wenn es irgendwo auf der Welt Ärger mit der Kundschaft gab, haben sie mich geschickt.» 2009 wird er pensioniert, neun Monate vor seinem 65. Geburtstag. Nach 43 Jahren im Dienst für Müller Martini bleibt das Reisen ein fester Bestandteil seines Lebens. Annalies und er unternehmen dieses Jahr ihre 24. gemeinsame Kreuzfahrt.

Vanessa Bulliard und Francisco Martinez Ruiz
Produktion im Rahmen eines Seminars am IAM Institut für Angewandte Medienwissenschaft der ZHAW. © IAM / Historisches Museum Thurgau, 2024

Quellenverzeichnis